Lilly Hagg - Die Macht der Gefühle_©Pia Sternbauer

Ein Selbstgespräch von Lilly Hagg

Ein Selbstgespräch von Lilly Hagg anlässlich der Ausstellung "Die Macht der Gefühle" im Museum Angerlehner (03.10.21 - 06.02.22).

Die einzigartige Ausstellung von Lilly Hagg befindet sich derzeit im Salon des Museums. Die aus der Malerei kommende Textilkünstlerin Lilly Hagg „malt“ mit Stoffen, die sie auf die Leinwand näht. Während ihres Schaffensprozesses – in dem sie sich oft auf Werke der Kunstgeschichte bezieht – gerät sie derart in Aufregung, sodass „die Gefühle mit ihr durchgehen“.



Du bist Textilkünstlerin, aber du kommst aus der Malerei. Wie waren deine Anfänge?

Ich sehe mich in erster Linie als Malerin. Ich komme von der expressionistischen Malerei. Hab bei Werner Liebmann in Berlin Weißensee studiert. Am meisten hat mich Kokoschka inspiriert - mit seinem genauen Auge und seinem spontanen Pinselauftrag. 

Anfangs versuchte ich vor allem das Auge zu schulen und die Erscheinungsformen der sichtbaren Welt zu schätzen. Alles ist faszinierend, wenn man es genau ansieht. Es ist ein Wunder, was Licht und Schatten zum Erscheinen bringen.
Am liebsten reibe ich mich an den Malern, die von der sichtbaren Welt ausgehen und sich kunstvoll von ihr lösen. Sei es ein Braque, ein Picasso, ein Matisse oder Cezanne, aber auch eine Joan Mitchell oder ein Per Kirkeby, ein Dubuffet oder eine Maria Lassnig. Auf deren Schultern steh ich.

Es galt also zuerst die Malereigeschichte aufzusaugen und zu verdauen.
Dann bin ich durch das wunderbare Stoffland in Oberwart gewandert und so kam die Frage auf, kann ich nicht die Malerei mit meiner ursprünglichen Berufung verbinden? Ich bin ja gelernte Damenkleidermacherin.
Da tat sich plötzlich eine Welt auf. Je mehr ich mit den Stoffen arbeitete, desto klarer wurde mir, dass die gesamte Geschichte der Malerei in die Welt der Stoffe eingewandert ist. All die großen Maler sind aus den Museen und Galerien in die Kleiderkästen und
Wohnlandschaften übergewechselt wie in ein Paralleluniversum. Dort arbeiten sie an der Gestaltung von Küchenschürzen, Kinderbettwäschen, Schlafzimmervorhängen, Eckbanküberzügen oder Abendkleidern. Mit meinen Arbeiten hole ich sie dort
heraus.

Beziehst du deine Stoffe nur aus dem Stoffland?

Nein. Alles was mir in die Quere kommt, wird verwendet. Ich gehe in Secondhandgeschäfte, hab meine Polsterer, die mir ihre Reste und Musterlaschen überlassen. Es kommt schon einmal vor, dass ich einer Freundin sage, dein Leiberl ist schön, so inspirierend, heb es mir doch bitte auf, wenn du es ausmusterst...

Wie war der Mediumswechsel? Wie kann man sich das vorstellen, mit Stoffen malen?

Begonnen hab ich mit einfärbigen Stoffen. Es zeigte sich, dass ich die Pinselstriche, mit denen ich sonst ein Lächeln darstelle, einfach aus Stoff ausschneiden und mit Nadel und Faden einfangen kann, wie ein Kokoschka an der Nähmaschine.
Erst später traute ich mich über die gemusterten Stoffe drüber. Was für ein Abenteuer! Wie gesagt, es taten sich Welten des verschiedensten Farbauftrags auf.

Du verwendest ja verschiedenste Stoffe...

Ja, je unterschiedlicher, desto besser. Ich liebe sie alle, die groben Polstermöbelstoffe, die bunten Jerseys, die durchscheinenden Voiles... Sie sollen alle mitspielen.
Und doch muss diese disparate Truppe in der Lage sein, eine Geschichte zu erzählen und ein einheitliches Ganzes zu erzeugen.

Du hastdich, nach Stoffportraits, Stofflandschaften und Nacktstücken, mit Vittore Carpaccio auseinandergesetzt. Wie kam es dazu?

Auf der Suche nach komplexeren Sujets stießich in Venedig auf Vittore Carpaccios Scuola di San Giorgio degli Schiavoni. Das ist ein fensterloser Andachtsraum im Osten von Venedig, den Carpaccio mit neun wuchtigen Gemälden ausgestattet hat.
Auftraggeber waren Ortsfremde, Slawen, die auf venezianischen Schiffen und in den Werften schufteten. Die Bilder zeigen die Metamorphose des Rabenschwarzen in ihrem Leben. Erst ist es ein menschenfressender Drache, der niedergemetzelt wird, dann ein gedemütigter Drache, der rituell enthauptet wird, dann ein Dämon, der ausgetrieben wird, ein verletztes Raubtier, das in menschliche Obhut genommen wird und schließlich ein Hündchen, mit dem man zusammenlebt.

Die Bildkompositionen sind erstaunlich. Man kann sich gar nicht sattsehen. Immer wieder gibt es Details, die ich übersehen habe. Er ist ein Maler, von dem man viel lernen kann.


Nachdem ich mich dem Zyklus zweimal ganz vorsichtig genähert und ihn durchgenäht hab, reizte es mich auch meine Gefühle einzubringen.
Deshalb die großen Formate: um genug Spielraum dafür zu haben.
Für diese Ausstellung habe ich mich immer wieder in den Bildraum hineingezaubert, um meine Gefühle zu zeigen, Einspruch zu erheben, je nachdem.

Die Ausstellung trägt den Titel: "Die Macht der Gefühle". Was erwartet uns?

Ansatzpunkt der meisten Bilder war ein Carpaccio. Man wird fast überall Versatzstücke von ihm sehen. Mal mehr, mal weniger. Manchmal habe ich überhand genommen. Dann ist nicht viel von ihm übriggeblieben. Dann sind die Gefühle mit mir durchgegangen.
Deshalb "Die Macht der Gefühle".

Mir gefällt die Vorstellung mancher Philosophen, die Gefühle seien objektiv im Raum vorhanden. Damit habe ich gespielt.

Das erste Gefühl, das man in der Ausstellung antrifft, ist hoch oben im Lichthof ein Bedauern. Ein Bedauern darüber, dass der große Drachentöter auf lange Sicht nur den ersten Schritt in Richtung Artensterben gemacht hat. Da ist der Drache, der Ahnherr der Singvögel, denen nun langsam, wie man hört, die Insekten ausgehen.
Damit zusammen hängt der Terrorquilt auf der Stiege, den ich wie eine weich gefütterte Decke über diese Zusammenhänge werfen wollte, in dem unbescheidenen Versuch, alles wieder gut zu machen.
Oder in einem Bild im Salon sitze ich wie eine gebückte Riesin in einem Puppenhaus der Renaissance und versuche mich darin abzulenken. Und wie es scheint, funktioniert das prächtig.

Du stellst auch eine Twitter-Skulptur aus. Erzähl mehr davon.

Die hab ich praktisch mit ihrem Namen aus der Nähmaschine herausgezogen: "Neulich in der Konditorei, als ich nach einem Tweet von Donald Trump auf die Idee kam, meine Verstörung in ein Bild zu verwandeln." Das sagt ja schon alles.

Dann gibt es da noch ein Matratzenbild mit dem Titel "Ich will, dass ihr in Panik geratet"...

Das ist selbstverständlich ein Zitat von Greta Thunberg. Im Lichte ihrer Botschaft ist das Bild zu betrachten. Du wirst sehen, was es da zu entdecken gibt: eine vom Meeresspiegel bedrohte Renaissancestadt, seltsamer Müll im Meer und eine selbstvergessene, heitere Gesellschaft...

Portraits sind ein immer wiederkehrendes Element in deinen Arbeiten. Was fasziniert dich daran?

Ich hab 2000-2001 mit Portraitserien begonnen. Es faszinierte mich, wie schnell sich ein Ausdruck verändert. In Bruchteilen einer Sekunde durchziehen einen verschiedenste Gefühle, durchläuft man, wie die Psychologen sagen, verschiedenste "Egostates".
Ein Portrait war nie genug. In meiner Arbeit Gefühlshaushalt, lasse ich drei Menschen, die dem ständigen Wechsel der Gefühle unterworfen sind, aufeinander einwirken. Freuden und Ängste prallen von einem Kopf ab, werden vom anderen geschluckt, verstärkt und weitergegeben.

Eine andere interessante Arbeit ist die Besenkammer, die aus Köpfen und Satinband besteht. Wie bist du da vorgegangen?

Hier ist das Serienportrait abgewandelt. Es erstreckt sich in der Vertikalen. Doch hier sind es nicht mehr Portraits der Hauptperson, sondern andere Gesichter, die den Körper besiedeln. Die Köpfe, die die Oberhand haben, sind guter Dinge, weil sie gerade das Sagen haben. Aber sie können jederzeit rausfliegen und von viel dunkleren Köpfen ersetzt werden, die unter ihren Hälsen lauern. Es ist der Versuch darzustellen, dass man oft von Gefühlen überkommen wird, die einem fremd sind, die scheinbar gar nicht zu einem passen
- und doch besuchen sie einen von Zeit zu Zeit.

Mein Bild Mantenere lo stato ist der weibliche Versuch einer machiavellistischen Selbstbehauptung. Da ist das große Portrait, das Sicherheit gibt. Aber da ist auch diese wuselnde Menge anderer Gesichter, die sich auch angeboten hätten - angesichts der Gefahr, die die Form eines schreienden Kamels angenommen hat.

Oder mein neuestes Bild Rendezvous mit einem Kopfmenschen. Da treffen Organisationsformen aufeinander. Da ist das Kopflastige, das über Perspektiven verfügt, sich aber nur zaghaft bewegen kann. Und andererseits diese wuselnde Menge von Emotionen,
Verwandtschaften und Aufgeregtheiten...
Es geht also darum, ein Menschenbild zu entwickeln, das meiner inneren Realität gerecht wird. Auf der Twitter-Skulptur zB. zerfällt mein Portrait in ein dreifaches. Einmal in mein Alterego, in das der Schreck gefahren ist, in einen Narren, der außer sich gerät, und dann in eine Bauchrednerpuppe, die versucht das Geschehen zu sublimieren.

Auf dem Bild Die Freude fällt dem Bösen in den Rücken gibt es kein Portrait mehr. Da wird nur mehr das Aufeinandertreffen gegenläufiger Gefühlsausbrüche gezeigt.

Ein Bild heißt Die Entdeckung Carpaccios...

Vittore Carpaccio ist wie ein unbekanntes Land. Sein Personal ist mir fremd, seine Themen völlig unzugänglich. Ich komme da mit meinem Schiff wie Kolumbus in der Renaissance an. Freue mich mitzuspielen. Doch was passiert mit dem Objekt des Interesses? Ich bringe meine Thermoskanne mit, denn ich bin auf meiner Reise durstig geworden. Und man darf ja wohl noch etwas trinken! Mein Körper ist riesig und voller unsichtbarer Krankheitserreger...
Ich habe keinen blassen Tau, in was ich da hineingeplatzt bin. Völlig profan sitze ich da und amüsier mich.
Es ist wie das Dilemma aus Traurige Tropen. Ich will erforschen, bewundern und mitspielen, bring aber Thermoskannen und tödliche Krankheiten mit.

Die Kunstgeschichte, die wir alle in den Museen suchen, ist ein Elexier, von dem wir gerne kosten möchten. Aber sind wir heute im 21 Jh. in der Lage ihr uns so zu nähern, dass wir ihr wirklich nahe kommen?
Verstehe mich nicht falsch, ich liebe diese Bilder. Es ist eine ständige Inspirationsquelle. Aber ich kann nicht anders, als mich mit meiner ganzen Geschichte zu nähern. Wir Menschen meinen es nicht böse, aber wo wir hinkommen stellen wir alles auf den Kopf.

Worauf Greta Thunberg aufmerksam macht...


Genau. Wir sind eine selbstvergessene Gesellschaft, die in Kauf nimmt, dass das Plastik, das so praktisch ist, mittlerweile in allen Meereslebewesen zu finden ist.
Diese Bilder machen mit einem Blick solche komplexe Zusammenhänge erfahrbar. Das ist das Spannende an der Malerei.

Wie bei dem Bild Das ist ja keine Lösung.

Es wird sofort klar, dass da etwas Monströses im Gang ist. Wieder faszinierte mich dieses 500 Jahre alte Gemälde von Carpaccio. Ich hab mich einfach in den Drachenkampf hineingeschummelt. Denn unsere Zeit ist eine andere. Die Kinder des 21 Jh. leiden unter dem rasanten Artensterben, das wir Zivilisierten auf den Weg gebracht haben.
Es war ja gut gemeint. Der Georg wollte ja nur die Prinzessin retten. Das tut er auch; aber er beginnt damit auch eine Ausrottungskampagne, deren Folgen wir zu tragen haben.

Die ersten Arbeiten mit Carpaccio waren eher eine 1 zu 1 Übertragung. Dein malerischer Umgang mit diesen Meisterwerken ist freier geworden...


Durch die Stoffe gibt es immer schon eine Verfremdung. Aber ich versuche auch, mir ein Vorbild an Thelonious Monk zu nehmen. So wie er stets einen Song, vielleicht schon einen alten, nimmt und sich ihm schräg nähert, - mit Zeitverzögerungen, Unbeholfenheit, mit Vorbehalten und Übermut, - so versuche ich mich Carpaccio zu nähern.

Ich habe zusehens Lust, die Malereigeschichte der letzten hundertdreißig Jahre mithineinspielen zu lassen. Aber immer soll der Anfang meiner Art von Malerei, der in der Renaissance liegt, durchscheinen und zu spüren sein, so wie bei Thelonious Monk der ursprüngliche Song stets anklingt.
Denn ich habe gar nichts am Hut mit dem Credo von Silicon Valley Move fast and break things.
Alles immer zum Schweigen zu bringen und so zu tun, als gäbe es nur die neuesten Techniken, ist eine Krankheit des 20. Jh. Ich gehe da anders vor. Für mich gilt z.B.: der Kubismus ist ein altes Lied, das ich nicht missen möchte!

Im 20. Jh. wurden so viele neue Techniken hervorgebracht. Es ergaben sich so viele neue Arten, Farbe aufzutragen, so viele neue Erkenntnisse über das Tafelbild. Den verschiedenen Techniken war nur eine kurze Spanne Zeit geschenkt, dann verloren sie an Kraft und zogen sich zurück.
Ich besuche sie gern wieder, diese alten Techniken, und ermögliche ihnen einen kleinen Gastauftritt.
Außerhalb der Kunst macht einem das ja Angst. Ich denke da nur an das Comeback des Faschismus ausgerechnet im Weißen Haus. Aber solche Zusammenhänge versuche ich mir mit allen Mitteln der Kunst vor Augen zu führen, um sie mir zu merken.

Es bedarf einer neuen Ökologie. So wie wir begriffen haben, dass Insekten, und seien sie noch so lästig, Errungenschaften sind, die uns bitter fehlen, wenn wir sie ausmerzen und wir also mit ihnen zusammenleben müssen, wir aber auch die Segnungen der Pestizide nicht verleugnen dürfen - so will ich einen Weg finden, die divergierensten Konsequenzen der Malereigeschichte zu vereinbaren, auch wenn sie von so gegensätzlichen Künstlern kommen wie einem Carpaccio, einer Helen Frankenthaler, einem Sigmar Polke, einem Tiepolo, einem Willem de Kooning oder einer Maria Lassnig, um nur ein paar Beispiele zu nennen...

Hat deine Arbeit etwas mit Steampunk zu tun?

Hm. Das ist eine interessante Frage: Kann man die Zukunft aus der Perspektive der Vergangenheit beleuchten? - Tue ich das? - Vielleicht. - Mein Interesse gilt den gegenwärtigen Fragestellungen. Wie sich bei den großen Bildern gezeigt hat, ist es aufregend, mit der Vergangenheit anzufangen und dann sukzessive die Gegenwart akut werden zu lassen. Dadurch ergeben sich Fragestellungen und Aussagen über die Gegenwart, die mich selbst überraschen, was die Arbeit so spannend macht. Es ist wie ein allmähliches Verfertigen der Gedanken beim Malen. Meine ursprünglichen Skizzen sind immer nur Ausgangspunkte. Das fertige Bild ergibt sich stets aus dem offenen Arbeitsprozess...